Eine Wüstenblume namens Angst

Andreas kommt in die Praxis, weil ihm etwas Rätselhaftes passiert ist. Er erzählt: „Ich war mit meinem Sohn Leon im Wald. Der Kleine spielte im Unterholz und rief mich aufgeregt zu sich. Er hatte eine Blindschleiche entdeckt. Als ich das Tier erblickte, erschrak ich so fürchterlich, dass ich mindestens 20 Minuten gebraucht habe, um mich zu beruhigen. Mein ganzer Körper zitterte. Ich bin jetzt fast 35 Jahre alt und reagiere beim Anblick einer Blindschleiche wie von Sinnen. Das ist doch nicht normal. Ich bin seit diesem Ereignis total verunsichert.“

 

Ich frage Andreas nach seinen bisherigen Erfahrungen mit Schlangen und nach langem Überlegen erinnert er sich an einen Spaziergang mit seiner Großmutter, als er selber noch Kind war. „Ich war vielleicht 4 Jahre alt und entdeckte eine Schlange auf dem Weg. Damals lief ich neugierig hin und in diesem Moment stieß meine Großmutter einen ohrenbetäubenden Schrei aus. Ich hatte meine Oma noch nie so ängstlich gesehen und wir haben nie wieder über diesen Nachmittag gesprochen. Aber das ist über 30 Jahre her. Diese Erfahrung kann doch unmöglich die Ursache sein, oder?“

 

Was meinen Sie? Ist hier ein Zusammenhang denkbar?

 

Ja! Ein Zusammenhang ist sogar sehr wahrscheinlich, denn alte Angsterfahrungen können jahrzehntelang nachwirken. Alte, unverarbeitete Angsterfahrungen sind sogar der optimale Nährboden für irrationale Angst. Manchmal benutze ich ein einfaches Bild, um dieses Phänomen deutlich zu machen. Ein Naturphänomen in Südamerika verdeutlicht den Zusammenhang:

 

Die Atacama Wüste in Chile ist sehr heiß und trocken. Oft regnet es jahrelang nicht. Aber immer wieder kommen heftige Regenfälle. Wissen Sie, was dann passiert? Unter der Erde liegen Pflanzensamen. Durch den Regen sprießen die Samen und das ausgedörrte Stück Erde verwandelt sich in einen riesigen Blütenteppich. Ein vergleichbarer Mechanismus ist in unserer Psyche aktiv und in diesem Beispiel auch bei Andreas. Sein altes angstvolles Erlebnis war eingetrocknet und unsichtbar. Er hatte es sogar vergessen. Aber es war noch da. Durch den aktuellen Auslöser wurde seine alte, „eingetrocknete“ Erfahrung aus der Kindheit wieder lebendig – so wie die Blumen in der Wüste. Als ich Andreas dies erkläre, nickt er und grinst: „Dann wäre meine Angstattacke also wie die Angstblumen in der Wüste?“ Wir müssen beide lachen.

 

Was ist der nächste therapeutische Schritt?

 

Andreas verbindet eine scheinbar willkürliche Angstattacke nun mit einer alten emotionalen Prägung. Hierdurch wird die vermeintliche Irrationalität der Angst entlarvt. Andreas versteht seine Reaktion.

 


 

Als Psychologin unterliege ich der absoluten Schweigepflicht. Alle Namen, Rahmenhandlungen und biographischen Details habe ich mir ausgedacht. Die Person, die ich hier beschreibe, gibt es nicht. Lediglich der psychologische Kerngedanke in jedem Beitrag ist real. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

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