Amelie geht es nicht gut. Ihr Geliebter will an ihrem Geburtstag nicht mit ihr feiern, sondern lieber die Ballettaufführung seiner Tochter besuchen. „Ich fühle mich zurückgesetzt, nicht ernst genommen, als hätte ich keine Bedeutung für ihn. Ich bin sehr traurig, dass ihm unsere Liebe so unwichtig ist. Wie kann er mich so sitzenlassen? Es schmerzt doppelt, dass er gar nicht sieht, wie weh er mir damit tut!“
Wir bleiben bei Amelies Gefühlen und ich verstehe ihren Schmerz noch besser, als sie mir erzählt, wie oft ihre Eltern sie alleine gelassen hatten. Termine außerhalb der Familie waren wichtiger als gemeinsame Abendessen. Oft stand sie als Kind nachmittags mit der Perlenkette ihrer Mutter in der Hand am Fenster und wartete auf sie. Am Wochenende saß sie alleine vor dem Fernseher, weil beide Eltern noch etwas zu erledigen hatten. Still und heimlich beneidete Amelie ihre Freundinnen, die am Sonntag mit den Eltern auf dem Sofa saßen, einen Liebesfilm schauten oder am Nachmittag mit der Familie Tischtennis spielten. Wie sehr hätte Amelie sich ein bisschen Normalität und Ruhe gewünscht oder eine Mutter, die ihr eine rosafarbene Geburtstagstorte backt.
Verstehen Sie Amelies Wunsch, an ihrem Geburtstag nicht ohne den Geliebten zu sein?
Je länger wir über Amelies Leben und ihre Erfahrungen sprechen, desto besser verstehe ich ihre Reaktion auf die Absage. Ich verstehe ihren aktuellen Schmerz und ich sehe ihren alten, verborgenen Schmerz, den man hinter der Fassade dieser hübschen Frau nicht vermutet. In der heutigen Stunde spüren wir beide ihre Sehnsucht nach Normalität und Gemütlichkeit. Unser tiefes, echtes Verständnis für Amelies Schmerz bringt eine andere Note in den Konflikt. Ihre Gefühle wirken nahezu selbstverständlich vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen. Es wird wärmer im Therapieraum. Ein Zauberwort stoppt heute den Eskalationsprozess: Verständnis. Und tatsächlich, am Ende der Stunde, Amelie will gerade die Tür hinter sich schließen, dreht sie sich nochmal um: „Ich habe meinen Eltern nie gesagt, wie es mir früher ging. Es ist komisch das zu sagen, aber vielleicht sehnt sich die Tochter meines Geliebten auch nach einem Papa, der im Ballett sitzt.“
Was genau bewirkt jetzt die Deeskalation?
Verständnis alleine besänftigt keinen Streit, aber es ebnet den Weg! Bei Amelie läuft die positive psychologische Kettenreaktion heute so ab: Verständnis bewirkt Beruhigung. Diese Beruhigung bewirkt einen Perspektivwechsel. Der Perspektivwechsel und das Mitgefühl für die kleine Tochter des Geliebten leiten den Deeskalationsprozess ein. Einfach, oder?
Und wie wird Amelie ihren Geburtstag nun verbringen? Lassen wir uns überraschen.
Als Psychologin unterliege ich der absoluten Schweigepflicht. Alle Namen, Rahmenhandlungen und biographischen Details habe ich mir ausgedacht. Die Person, die ich hier beschreibe, gibt es nicht. Lediglich der psychologische Kerngedanke in jedem Beitrag ist real. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Kommentar schreiben